In der Whitebox hört man die Vöglein singen
Beitrag von Klaus Fehling zum Programmheft für Der Rosenkavalier am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, März 2011
Falls er fähig ist, zu träumen, so wird er sich vielleicht als Mohr in einem Garten wiederfinden, vielleicht an jenem Ort am Rande, von dem aus sich durch die Hecken eine Blickachse auftut, über die er durch den Mittelpunkt hindurch bis auf die Grenze des gegenüberliegenden Flurstücks sieht. Auch diese Achse hat eine spezifische Länge, die genau festgestellt und verzeichnet sein wird.
Das Rechteck, das den Garten bildet, hat eine definierte Länge und eine definierte Breite. Aus diesen absoluten Werten ist die Fläche des Gartens errechenbar. Alles ist an seinem Platz und alle Abstände, Winkel und Positionen sind auf einer detaillierten Karte erfasst.
Links das grosse zeltförmige Himmelbett. Neben dem Bett ein dreiteiliger chinesischer Wandschirm hinter dem Kleider liegen. Ferner ein kleines Tischchen und ein paar Sitzmöbel. Auf einem kleinen Sofa links liegt ein Degen in der Scheide. Rechts grosse Flügeltüren. In der Mitte, kaum sichtbar, kleine Türe in die Wand eingelassen. Sonst keine Türen. Zwischen dem Alkoven und der kleinen Türe steht ein Frisiertisch und ein paar Armsessel. Die Vorhänge des Bettes sind zurückgeschlagen. Helle Morgensonne. Man hört im Garten die Vöglein singen.
In diesem Garten ist für alles jemand zuständig und alle Wege sind gerade. Die Türen werden von unsichtbaren Händen bewegt. Jeder weiß, was er zu tun hat.
Das Servierbrett auf das kleine Tischchen, nach vorne schieben, das Sofa hinzu rücken, tief gegen das Bett verneigen, die Arme über die Brust gekreuzt. Dann nach rückwärts, immer das Gesicht dem Bette zugewandt. An der Tür verneigen und ab.
Begrenzt wird der Garten von Wänden aus dem Glas halbdurchlässiger venezianischer Spiegel. Es gibt Türen und Fenster, aber keine Öffnung nach außen.
Mitteltüre nach dem Vorsaal. Türen links und rechts. Rechts auch ein grosses Fenster. Zu beiden Seiten der Mitteltüre Stühle an der Wand. In den abgerundeten Ecken jederseits eine kleine unsichtbare Türe.
Innerhalb seiner Grenzen bildet der Garten ein geschlossenes, informationsdichtes System, dessen Regelungs- und Steuerungsmechanismen wie in einem gläsernen Kasten durch reine Beobachtung von außen vollständig nachvollziehbar sind. Die Gehölze werden ständig in Form gehalten. Es besteht die Möglichkeit, dass es Niederschlag gibt, oder dass eine Überhand nehmende Schädlingspopulation das ökologische Gleichgewicht verändert - jederzeit.
Weiss mit Blassgrün sind die Farben des Rosenkavaliers. Die Lakaien, die Haiducken mit krummen ungarischen Säbeln an der Seite, die Lauffer in weissem sämischem Leder mit grünen Straussenfedern. Die Rose in der rechten Hand.
Die Wände dieser gläsernen Whitebox sind auf der anderen Seite die Wände einer Blackbox, deren veränderlicher Inhalt für den Betrachter geheimnisvoll bleiben wird. Es kommt darauf an, auf welcher Seite er sich wiederfindet.
Ein Extrazimmer in einem Gasthaus. Im Hintergrunde links ein Alkoven, darin ein Bett. Der Alkoven durch einen Vorhang verschliessbar, der sich auf- und zuziehen lässt. Mitte links ein Kamin mit Feuer darin. Darüber ein Spiegel. Vorne links Türe ins Nebenzimmer. Gegenüber dem Kamin steht ein für zwei Personen gedeckter Tisch, auf diesem ein grosser, vielarmiger Leuchter. In der Mitte rückwärts Türe auf den Korridor. Daneben rechts ein Büfett. Rechts rückwärts ein blindes Fenster, vorne rechts ein Fenster auf die Gasse. Armleuchter mit Kerzen auf dem Büfett, auf dem Kamin sowie an den Wänden.
Der Zweck des Gartens ist der Garten selbst. Er zeigt sich nur demjenigen als lebendig, der sich innerhalb seiner Grenzen aufhält.
Als Mohr wird er die Schokolade bringen. Er wird die duftende Silberrose empfangen und weitergeben. Er wird Teil des Gartens sein. In Zeit und Ewigkeit. Im Garten hört man die Vöglein singen.
Herein kommt der kleine Neger, mit einer Kerze in der Hand, sucht das Taschentuch, findet es, hebt es auf, trippelt hinaus.
Klaus Fehling