Presse:2005 04 28: Berliner Zeitung über Was wird mit Gott...?

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Berliner Zeitung vom 28. April 2005 über Was wird mit Gott wenn ich tot bin?

Wir spielen ein Gehirnproblem

"Der Fall Schreber": In der Charité wird Theater gezeigt

Katja Oskamp

Redet ein Schauspieler von Kopfschmerzen, wiederholen die anderen das Wort und fassen sich an den schmerzenden Kopf. Spricht einer von Denkzwang, rennen alle rum und spielen Denken. Was tun sie, sobald das Wort Brüllzustände fällt? Richtig. Sie reißen sie die Münder auf und brüllen ein bisschen.

"Der Fall Schreber. Was wird mit Gott wenn ich tot bin?!" ist eine Koproduktion der Sophiensæle mit evoe:performing:artists (Konzept, Regie, Schauspiel: André Erlen) und post theater new york/berlin (Konzept, Installation, Raum: Matthias Böttger und Max Schumacher), wobei sich die einen "als Teil des in Köln neu gegründeten ensemblenetzwerkes FREIHANDELSZONE" verstehen, während die anderen "ein interdisziplinäres Netzwerk ohne Ensemble" sind. Derart im Bedeudeudeutungs-Salalalat von Namensgebung und Selbstauskunft verstrickt, muss man froh sein, wenn die Künstler zum Auftritt überhaupt noch erscheinen. Sie tun es glatt, schon eine halbe Stunde nach angekündigtem Beginn. Es werden Schilder mit Worten wie "Vater", "Gott", "Weltuntergang" in die Luft gehalten. Es werden mit Texten beklebte Holzkästen auf Rollen umhergeschoben, die - bei wem fiele nicht auf der Stelle der Groschen! - "eine begehbare und selbst gehende Gehirninstallation" darstellen. Zur Auffrischung der schwindenden Zuschaulust ziehen sich die Darsteller bis auf die blutgetränkte Unterhose aus.

Der interessanten Frage im Titel geht freilich niemand nach. Anlass für den ganzen Kokolores ist das Buch "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" von Daniel Paul Schreber. Sein Vater erfand nicht nur den Schrebergarten, sondern diverse Züchtigungsapparate, in die er den Sohn einschraubte. Vom Erziehungsfanatiker zur triebfreien Persönlichkeit aufgepäppelt, brachte es Daniel Paul Schreber bis zum Senatspräsidenten, bevor er sich in die psychiatrische Heilanstalt verabschiedete. Dort schrieb er vor hundert Jahren zwischen Größenwahn und Suizidversuchen seine Krankengeschichte nieder und schenkte der Psychoanalyse ein wertvolles Dokument.

Das Stück für vier Schauspieler und eine Installation findet im Medizinhistorischen Museum der Charité statt, genauer zwischen ruinösem Mauerwerk in Virchows Vorlesungssaal. Gegen den gespenstisch schönen Raum haben die Holzkästen gleich gar keine Chance mehr. Zwei Vorteile bringt der Abend dennoch. Man kann erstens das Buch von Daniel Paul Schreber kaufen und sich zweitens im Museum vor farbecht konservierten Präparaten handfest gruseln. In Glaszylindern schwimmen uralt und ewig haltbar Leberzirrhosen mit Verfettung, verdoppelte Brustwarzen oder sechsfache Nabelschnur-Umschlingungen.